Hanau:
Das Making-of eines Rechtsterroristen
Nach dem Attentat von Hanau wird eine Frage laut, vor der sich niemand mehr verstecken kann: Wie krank ist eine Gesellschaft, die solche Täter hervorbringt? Die Gewalt von rechts und die Gewalt, die sich eine rechte Begründung sucht, haben in unserer Gesellschaft in jüngster Zeit in einem
Es ist mehr, als eine Kultur, eine Erzählgemeinschaft, ein politisch-ökonomisches System verkraften und verarbeiten kann. Es ist mehr, als in das Selbstbild und die Selbsterklärung dieser europäischen Demokratie passt. Es ist mehr, als unsere sozialen Subsysteme, Polizei, Justiz, Wissenschaft, Medien oder Nachbarschaft, aushalten können.
Zur politischen Rhetorik gehört es dann jedes Mal, zu betonen, dass der jeweilige Angriff nicht nur konkreten Menschen gelte, sondern "uns allen". Und jedes Mal schwieriger wird die Antwort auf die Frage: Wer oder was ist das – "wir alle"? "Die" und "wir", Angriff und Verteidigung, das setzt sich so fort und übermalt den eigentlichen Schrecken, nämlich dass der Terror genau von dort kommt, wo "wir alle" eigentlich daheim sein sollten, aus der "Mitte der Gesellschaft", aus dem "Unauffälligen" und "Angepassten", aus der Normalität und aus dem Gewöhnlichen.
Vielleicht sind die individuellen Täter tatsächlich Menschen, die krank an Seele und Geist sind; ihre Manifeste von Anders Breivik bis zum Täter in Hanau, werden zunächst stets als wirr und manisch beschrieben. Aber sie sind immer doppelt lesbar, als Offenbarung einer persönlichen Störung (wir Laien sind mit dem Begriff Psychose rasch bei der Hand) und als Erfüllung eines vorformulierten politischen Weltbildes. Und beides, Psychose wie politische Radikalisierung entfalten das terroristische Potential ganz offensichtlich auf der Grundlage von Normalitäten und Gewohnheiten. Die Täter tun wirklich, wovon zu schwadronieren längst erlaubt, gewohnt und hingenommen ist. Man kann über die Täter des rechten Terrorismus nichts sagen, ohne von der Gesellschaft zu sprechen, die sie hervorgebracht hat.
Am Ende seines epochalen Versuches über Das Unbehagen in der Kultur fragt Sigmund Freud 1930, zögernd und skeptisch genug, ob die Modelle der Psychopathologie vom kranken Individuum wirklich auf soziale Gruppierungen und Strömungen, schließlich auf ganze Gesellschaften übertragbar sind. Seiner Ansicht nach "stößt die Diagnose der Gemeinschaftsneurosen auf eine besondere Schwierigkeit. Bei der Einzelneurose dient uns als nächster Anhalt der Kontrast, in dem sich der Kranke von einer 'normal' angenommenen Umgebung abhebt. Ein solcher Hintergrund entfällt bei einer gleichartig affirmierten Masse, er müsste anderswoher geholt werden." Für die Psychose gilt das in verstärktem Ausmaß und natürlich auch für das, was wir uns Borderlinesyndrom zu nennen angewöhnt haben.
Der individuelle Aufruhr wird also als Bruch mit gesellschaftlicher Normalität erzählt. Wer Stimmen hört und sich Zeitreisen erwägt, ist nicht normal, denn normal ist nichts anderes, als dass jemand im Sinne unseres Wirtschaftssystems funktioniert, von Arbeit bis Freizeit, von Shopping bis Medienkonsum. Einen kranken Menschen erkennt man an den Unterschieden zu den normalen. Oder?
Eine kranke Gesellschaft hingegen lässt sich allenfalls allegorisch gegen eine Welt setzen, die normal geblieben ist, wie zum Beispiel in der Zeit des historischen Faschismus, den wir ja durchaus mit Begriffen belegen ("Rassenwahn", "Verblendung", "Massenhysterie"), die in Analogie zu psychopathologischen stehen. Eine Gesellschaft von Menschen, die in einer überwältigenden Mehrheit verrückt geworden sind, aufgrund einer Mischung aus sozialpsychologischen Faktoren (Arbeitslosigkeit, Modernisierungsdruck, Kriegsfolgen) und Suggestionen (Führerkult, Propaganda, "Ornament der Masse", BDM/HJ-Seligkeit), ist immer noch leichter zu ertragen als eine Gesellschaft, deren Mitglieder mehrheitlich Komplizen eines gewaltigen Verbrechersystems waren. Wie in den Dreißigerjahren, so wird auch jetzt die Krise allerdings als Normalfall des Systems bezeichnet. Das Erzählmodell ist demnach: Menschen in der Krise werden anfällig für das, was unsere Kanzlerin das Gift nennt. Ist es so einfach?
Hassmailer und Waffensammler sind nur ihre InstrumenteStatt sofort von einer kranken Gesellschaft zu sprechen – einer Gesellschaft, die zugleich von Rechtspopulismus und Neofaschismus befallen wird wie von einer Virusepidemie – ließen sich zwei Beziehungen beschreiben: 1. Eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder gegen die Krankheit ("das Gift") nicht beschützen kann oder will. 2. Eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder ihrerseits krank macht ("vergiftet").
Das Erste gilt schon an der Oberfläche: Vielleicht ist der demokratische Staat in der Lage, durch Geheimdienste, Spitzel und Polizei gelegentlich einen Terroranschlag zu verhindern, wie es möglicherweise vorige Woche durch die Verhaftungen der Gruppe S der Fall war. Er kann aber das allgemeine Klima von Bedrohung, Einschüchterung und Angsterzeugung durch die verzweigte Rechte nicht verändern – und es gibt begründete Vermutungen, dass er das auch gar nicht besonders will. Es war und ist ein erklärtes Ziel der Faschisten, die Gesellschaft so sehr in Angst und Schrecken, in bürgerkriegsähnliche Zustände zu versetzen, dass sie sich dann als Ordnungsmacht gegen dieselben inszenieren können. Diesem Ziel dienen der gewohnheitsmäßige Hassmailer, der Pegida-Marschierer, der konspirative Waffensammler, die faschistische Straßengang genauso wie der einsame Wolf als Rechtsterrorist. Ob die Täter verwirrt sind, ist eine zweitrangige Frage gegenüber der Verwirrung, die sie anrichten. "Wir alle" sind vor allem verängstigt, misstrauisch, unehrlich. Was "uns allen" abhanden zu kommen scheint, ist eine demokratische Kultur, eine demokratische Bildung, ein demokratischer Eros. Vom Ethos ganz zu schweigen.
Das Hanauer DreieckNicht minder gravierend als ein Staat, der seine Gesellschaft gegen eine zur Gewöhnlichkeit werdende Bedrohung von rechtsextremer Seite nicht bewahren kann, ist eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder durch ihre Ökonomie des Alltags krank macht. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen darüber, wie der historische Faschismus sich aus dem System der Erziehung und der Werte, der Klassen und der Familien entwickeln konnte. Wäre es jetzt nicht an der Zeit, kritische Überlegungen darüber anzustellen, was der sogenannte Neoliberalismus mit Menschen anstellt? Und mit der Art, wie sie miteinander umgehen?
Eine Gesellschaft ist ein Komplex aus politischen, ökonomischen und kulturellen Vernetzungen, deren Mitglieder sich in offener, aber verbindlicher Form miteinander verbunden fühlen. Noch immer wissen wir nicht, ob wir den Attentäter von Hanau als psychisch kranken oder als politischen Verbrecher ansehen. Aber die große Frage, die nun im Raum steht und um deren Beantwortung wir nicht mehr herumkommen, lautet: Kann eine Gesellschaft krank oder kriminell werden? Und sind die sich häufenden Formen des rechten Terrors Symptome dieser Krankheit?
Allgemein erkannt, auch in bürgerlichen und konservativen Kreisen, sind drei sozusagen vor-politische aber eben auch vor-psychotische Erscheinungen:
1. Die
Empathielosigkeit (gegenüber allen Menschen, die zu "den anderen" gehören); ein völliges Unvermögen, Verständnis und Mitleid jenseits von Nutzen und Ideologie zu entwickeln, sich in andere einzufühlen, die Aufgabe von Solidarität als menschlicher Praxis zugunsten abstrakter Zuschreibungen und
Ausgrenzungen. Soziale Gleichgültigkeit und zugleich retromanische "Heimatsentimentalität"
2. Die Barbarisierung, Entkultivierung,
Enthemmung von Sprache, Kommunikation und Umgangsformen; die Verstärkung von Konkurrenz, Egoismus (und Gruppenegoismus), die Bezeichnung von Gewinnern und Verlierern sowie ein sadistisches Spiel von
Kränkung und Gegenkränkung (das letzte Stadium kapitalistischer Konkurrenz: sich gegenseitig krank machen!), Viktimisierung und Gegen-Viktimisierung, Empörung und Entrüstung, Moralismus, der die Praxis der Moral verdrängt
3. Die
Sexualisierung der Diskurse und der Bruch mit der Liberalisierung von Familien- und Rollenmodellen. So wie man zu Recht gesagt hat: "Wer vom Faschismus spricht, darf vom Kapitalismus nicht schweigen", wird man sagen müssen: "Wer vom Faschismus spricht, darf von Sexualität nicht schweigen." In den Manifesten der Rechtsterroristen finden sich ebenso viele Spuren davon wie in der rechtspopulistischen Propaganda. Eine rechtsextreme Vergiftung ohne Sexismus oder Homophobie ist so schwer vorzustellen wie eine rechtsextreme Vergiftung ohne Rassismus.
Rechte Ideologie ist eine DrogeRechtspopulismus und Rechtsextremismus sind ideale Sammelbecken für zwei besondere Formen der bürgerlichen Subjekte, nämlich des "autoritären Charakters" und des "destruktiven Charakters". Der autoritäre Charakter opfert das unzuverlässige, unfertige und widersprüchliche Ich, um einem totalen Über-Ich die Freisetzung und Legitimierung des unterdrückten Es zu überlassen. Der destruktive Charakter kann sein Triebziel nur erreichen, indem er es – oder ein Ersatzobjekt – zerstört.
So wie es die große Illusion der Demokratie war, die Interessen und Wahrnehmungen auf eine Mitte hin moderieren zu können, so war es die große Illusion der liberalen Gesellschaft, die Unglücksfälle autoritärer Charakter und destruktiver Charakter"weitgehend vermeiden zu können. Die liberale Gesellschaft konnte sich kaum vorstellen, dass autoritäre und destruktive Charaktere in Politik, Ökonomie und Kultur, in Arbeit, Alltag und Freizeit wieder hegemonial erscheinen würden. Und noch weniger konnte sie sich vorstellen, autoritären und destruktiven Charakteren selbst aktiv zur Maskierung zu verhelfen.
Das Making-of eines Rechtsterroristen eines Rechtsterroristen aus der trialektischen Beziehung von Persönlichkeitsstörung, krankmachender Gesellschaft und Vergiftung durch rechtsextreme Ideologie wäre nicht so massenwirksam, wenn es sich nach dem Kanzlerinnenwort tatsächlich nur um Gift handelte. Die rechte Mythologie ist aber in Wahrheit, um im Bild zu bleiben, eine Form von Rauschgift. Gewalttätiger Rechtsextremismus ist so sehr wie in Analogie zur Psychose auch in Analogie zur Droge zu verstehen. Die Entsprechungen sind ziemlich eindeutig: Das Euphorisierende, das Sich-stark-und-unbesiegbar-fühlen, der Bruch mit den biografischen Widersprüchen (die Auflösung der eigenen Sorgen in ein perfides Management der Emotionen, Illusionen und Halluzinationen), der Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsverlust, die Abfolge von Rausch und Entzug, die zur Notwendigkeit führt, die Dosis zu erhöhen, die Szene, in der man sich aufgehoben und verstanden fühlt.
Es ergeben sich drei Formen der Gewalt daraus: die gemeinschaftliche Aktion, welche Initiation und Bindung fördert, die "Beschaffungskriminalität" und schließlich der rauschhafte Ausbruch. Er ist das mögliche Finale einer Geschichte der Abhängigkeit, die stets ähnliche Stationen aufweist: Mehr oder weniger wohlige Regression ("Wir", Kameraden, Heimat, Volk, Nation) mündet in eine Phase von Larmoyanz, Selbstmitleid, Opferklage, aus der wiederum die Aggression entsteht ("die anderen", Rassismus, Feindbilder und Verschwörungsfantasien) und die endliche Destruktion, Massenmord und terroristische Aktion, die manchmal, aber keineswegs immer die Selbstzerstörung als finalen Erlösungsakt mit einschließt. Wenn wir Rechtsextremismus als Droge begreifen, dann ist der Terrorakt als erweiterter Selbstmord gleichsam die Überdosis. Und wo es eine Drogenabhängigkeit gibt, da gibt es auch die Dealer, das heißt Menschen und Organisationen, die sehr viel mehr tun, als nur Gift verspritzen, nämlich ein System der Abhängigkeit errichten, aus dem es so gut wie kein Entkommen mehr gibt.
Natürlich ist die Analogie zwischen Rechtsextremismus und Droge ebenso limitiert wie die Analogie zwischen Rechtsextremismus und Krankheit – und weder das eine noch das andere ändert grundsätzlich etwas an der persönlichen Verantwortung der Täter, ihrer Helfer, ihrer Anstifter. Wir vergessen bei alledem gewiss nicht, dass wir es primär mit Verbrechen zu tun haben, und noch weniger vergessen wir, dass dieses Verbrechen Leid, Schmerz und Tod für Mitmenschen bedeutet.Psychoanalyse in Anwendung auf die Gesellschaft
Nimmt man Empathieverlust, sprachliche Entkultivierung und toxische Sexualisierung der Diskurse zusammen, hat man, sozusagen kurz bevor das Gift der neuen Rechten seine finale Wirkung entfalten kann, die Disposition zum rechtspsychotischen Terror. Berechenbar wird damit noch lange nichts, aber vielleicht können wir ein Dreieck konstruieren:
Aus diesem Dreieck ergibt sich rasch das gebräuchliche Narrativ: Der durch Biografie vorgestörte Mensch erfährt in der entsolidarisierten und empathielosen Gesellschaft Kränkung und Zurückweisung, bis er an das Gift der rechtspopulistischen und rechtsextremen Organisationen und Medien gerät, die ihn schließlich zu einer Tat provozieren, in der alles drei zusammenkommt: die psychotische Aggression, die Rache an der Gesellschaft und das rechtsextreme Welt- und Erlösungsbild.
Freilich: Das Narrativ verändert sich, je nachdem von welcher Seite man das Dreieck betrachtet. Nicht bei jeder rechtsterroristischen Mordtat ist die Psychose so zentral wie beim Hanauer Täter. Es geht hier also nicht um ein Psychiatrisieren, noch gar um die zu Recht verpönte laienhafte Ferndiagnose von Tätern und Protagonisten des Rechtsextremismus. Die Psychoanalyse nach Freud indes bezeichnet nicht allein ein Diagnose- und Heilverfahren für Individuen, das tunlichst den Spezialisten überlassen bleiben sollte, sondern auch eine kritische Kulturtheorie, mit deren Hilfe sich vielleicht begreifen lässt, wie sich die Beziehungen zwischen kranken Einzelnen und kranken gesellschaftlichen Strukturen entwickeln.
Wie viel Blut muss noch fließen?Und doch sind Fragen nach der Beziehung von individuellen und sozialen Störungen, nach kranken Charakteren, kranken Bildern und kranken Gesellschaften unabdingbar. Mit dem Ziel der Machtübernahme ist es der rechtsextremen Welterzählung vollkommen egal, wie neurotisch, psychotisch, kriminell, krank, süchtig diejenigen sind, die die blutige Arbeit der Chaotisierung der Gesellschaft ausführen. In der Verfassung, in der diese Gesellschaft und ihr Staat derzeit sind, ist etwas anderes als eine rein oberflächliche, das heißt einerseits polizeiliche und andererseits rhetorische Abwehr der rechtsextremen Gewalt nicht zu erwarten. Das Modell des Hanauer Dreiecks wird sich in immer neuen Variationen wiederholen, wenn Staat und Gesellschaft nicht erkennen, dass es ihre Krankheit ist, die da zum Ausbruch kommt, eine Krankheit die tiefere Ursachen hat als nur ein Gift, das gestörte Individuen zu Verbrechern macht.
Wenn wir also, mit der von Freud gebotenen Zurückhaltung und Skepsis, von einer im psychopathologischen Sinne kranken Gesellschaft ausgehen müssen (einer Gesellschaft mithin, die mit ihren inneren Dysfunktionen nicht mehr fertig wird, einer Gesellschaft, die zwischen Hysterie und Agonie die tieferen Ursachen ihrer Störungen negiert), dann ist wohl die nächste Frage die nach den Heilungs- und Selbstheilungsaussichten. Soviel ist sicher: Um eine ehrliche Diagnose und um einen grundsätzlichen Wandel der Lebensführungen kommt man dabei nicht mehr herum. Demokratischer Staat und liberale Gesellschaft müssen sich nicht nur verteidigen, sie müssen sich auch erneuern. Sie müssen einen neuen zivilgesellschaftlichen Pakt schließen, Problemlösungen statt Machtspiele anstreben, soziale Verantwortung vor ökonomische Interessen setzen, ein neues Kapitel der Demokratiegeschichte beginnen und ein neues Kapitel der Aufklärung. Wer soll das bewerkstelligen? Falsche Frage.
Wie viele Menschen müssen noch sterben, bis damit begonnen wird, mehr als nur Symptome zu behandeln? Wie viele der lebenden Zeitbomben, die die Triade von Persönlichkeitsstörung, krankmachender Gesellschaft und faschistischer Drogierung immer weiter produziert, müssen noch explodieren, bevor aus Erschrecken und Empörung ein Projekt der demokratischen Renaissance wird? Wie viel Blut muss noch fließen, bis man den Ursprung der Krankheit erkennt: die zerrissene Mitte der Gesellschaft hinter der Maske der Normalität.
ZEIT online